Heroin hat mein Leben gerettet (Ein Interview mit Ullrich Winternitz)
Ein Artikel aus der Zeitschrift UNBEQUEM. Sie wird von der Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten (Hamburger Signal) e.V. herausgegeben.
Ullrich Winternitz ist der verantwortliche Redakteur der Frankfurter Zeitschrift "Junkfurter Ballergazette" (JuBaz), einer von der Integrativen Drogenhilfe an der Fachhochschule Frankfurt/Main herausgegebenen Junkie-Zeitschrift. Er ist vierzig Jahre alt und seit 20 Jahren Drogengebraucher. Als HIV-Positiver ist er für das Methadon-Programm der Stadt Frankfurt "qualifiziert" und hat seit vier Jahren einen der 400 Plätze für Substituierte. Mit ihm sprachen Jürgen Korell und Kirsten Nazarkiewicz.
Unbequem: Warum, glaubst Du, wird so vermehrt an der Illegalität von Drogen festgehalten?
Winternitz: Weil viel zu viele Interessen eine Rolle spielen. Ich sag' jetzt einfach mal: Sündenbocktheorie. Wenn man den Leuten den Sündenbock wegnimmt, muss man für das Vakuum einen Ersatz bieten. So können sich auch die Leute, die jahrelang Alkohol trinken sagen, die sind süchtig, ich aber nicht. Oder wenn man sich überlegt, wieviel mehr Geld in den letzten zwanzig Jahren in die Polizei hineingesteckt worden ist allein zur Drogenbekämpfung. Das zieht immer, da haben die Bürger Verständnis. Ich bin sicher, so sag' ich manchmal, wenn ich auftreten würde und sagen würde: hier, ich habe die Lösung, wie wir das Drogenproblem von heut auf morgen lösen können, ich wäre der erste, der abgeschossen wird. Dann würde ein V-Mann auf mich angesetzt, ha, ha.
Unbequem: Auch von den Befürwortern der Legalisierung wird gesagt, Drogensüchtige sind Kranke. Das hängt sicher zum einen damit zusammen, dass die Krankenkassen zahlen sollen, aber das hat doch auch einen psychologischen Hintergrund. Siehst Du das auch so, dass ein Süchtiger ein Kranker ist?
Winternitz: Nein, auf keinen Fall. Deshalb bin ich auch gegen ein ärztliches Modell, die wollen natürlich ihre Macht nicht hergeben. Der New Yorker Psychiater Thomas Szasz aus Ungarn, er kommt aus der >Antipsychiatrie<, sagt in seinem Buch "Das Ritual der Drogen", wenn ein Pharmakologe etwas über Drogen erzählen will, nur weil Drogensucht etwas mit Drogen zu tun hat, ist das genauso absurd, wie wenn ein Chemiker uns etwas über Weihwasser erzählen will, weil das was mit Wasser zu tun hat. In der Psychiatrisierung wird alles von >Badness< zu >Madness< definiert, was viel schlimmer ist, denn böse sein beinhaltet, gut werden zu können. Aber >krank< ist ein gefährlicher Stempel gegen Freiheit. Nehmen wir zum Beispiel den Vietnam-Krieg, da ist man davon ausgegangen, hunderttausend absolut Süchtige kommen aus Vietnam zurück, weil es das Zeug da gab, teilweise hat man Heilanstalten leergeräumt. Zwanzigtausend haben sich in den Entzugsstätten eingefunden, viele, die man interviewt hatte, haben teilweise von heute auf morgen aufgehört, weil sie wieder in ihrer Familie waren usw. Einfach aufgehört, das würde doch gar nicht in diese Krank-heitstheorie passen.
Unbequem: In der Zeitung "Die Woche" vorgestern (15.7.93) haben sich prominente Vertreter wie Henning Voscherau oder der Bonner Polizeipräsident Michael Kniesel für eine kontrollierte Heroinfreigabe ausgesprochen, Du nicht, welches Modell schwebt dir vor?
Winternitz: Das Modell der niederländischen Coffie-Shops. Dort wird man in kein Programm eingesperrt, sonst würde das auch niemals so gut funktionieren. Dort kann man Musik hören und rauchen, man lernt Regeln und kann den Leuten zeigen, was gefährlich ist, worauf du achten musst, lernst du nicht in der Klinik. In Holland gibt es eine Stelle, die nennt sich Drogengebrauchsforschung, anfang der achtziger Jahre haben die Surinamesen angefangen Koks zu rauchen, und da gab's so ein Hausboot, auf dem haben sie sich getroffen. Der Forscher, der das beobachtet hat, hat sie gefragt, warum sie nie >durchdrehen<, was er oft von Ärzten gehört hatte. Der Surinamese sagte, nee, nee das ist wirklich passiert, aber wir haben halt ziemlich schnell gelernt, worauf man achten muss. Solche subkulturellen Erfahrungen sind sehr wichtig, deshalb bin ich gegen ein rein medizinisches Modell. Immer wieder wird deutlich, dass die Pharmakologie einer Substanz bei weitem nicht so wichtig ist, und sich neben der individuellen Persönlichkeit und den sozialen Voraussetzungen das kulturell geprägte Kosummuster als wesentlich herausstellt. Die Frankfurter >Äppelwoi<-Kultur hätte sich ja auch nicht in der Uniklinik oder einer Psychiatrie entwickeln können.
Unbequem: Es wird ja offiziell abgestritten, dass es noch so etwas wie soziales Verhalten gibt, es wird behauptet, dass jeder nur an sich denkt und auch die Freunde beklaut.
Winternitz: Das stimmt einfach nicht. Mich hat die Szene ein Jahr lang überleben lassen. Ich hatte z.B. einen Löffelverleih und habe es oft erlebt, dass, wenn ich jemanden, der gerade etwas hochgekocht hat, gebeten habe, eine paar Tropfen drin zu lassen, der das gemacht hat, weil ich keine Kohle hatte. Wenn wir von Legalisierung ausgehen, beachten wir immer nur die negativen Seiten. Es könnte ja sein, dass gefährliche Konsumformen wegfallen würden, ich z.B. könnte mir vorstellen, statt Heroin wieder Opium zu rauchen, was mit die ungefährlichste Form ist, Opiate zu sich zu nehmen. Wenn du mal anschaust in Amerika, trotz der vielen Zigarettenwerbung wissen die Leute so viel über Gefahren Bescheid, dass da 'ne unheimliche Bewegung stattfindet. In öffentlichen Gebäuden darfste nicht rauchen, und die Raucher sind auch drastisch zurückgegangen. Damit will klar machen, dass wir heutzutage über jahrelange Aufklärung einfach über die Gefahren von Drogen - in diesem Fall Nikotin - Bescheid wissen, und so wie heute jeder, der Heroin probiert, weiss, worauf er sich da einläßt. Echte, objektive Aufklärung muss auch weiterhin betrieben werden. Vor jeder freien Entscheidung muss gründliche Information stehen.
Unbequem: Jetzt sagen aber die Gegner der Freigabe, dass Crack geraucht würde, weil durch den normalen Heroingebrauch der Kick fehlte.
Winternitz: Die Crackraucher haben mit Heroin nicht so viel zu tun. Der Nobelpreisträger Milton Friedman behauptet, Crack wäre ohne diese Intervention gar nicht erst erfunden worden. Koks war lange Zeit unheimlich teuer, und das ist die billigste Form einfach. Das sind die unteren Kreise. Dort wird auch anders verurteilt. Für fünf Gramm Crack mit einem Verkaufswert von 125 USD kriegste fünf Jahre Knast. Um dieselbe Strafe für Kokain zu erhalten, müßte man mit 500 Gramm Koks erwischt werden, welches einen Wert von 50.000 USD hat. Schwarze Journalisten machen darauf aufmerksam, dass aber 92% der wegen Crack verhafteten Schwarze sind, während 85% der wegen Koks verhafteten Weisse sind. Was dahinter steckt, ist wohl sehr deutlich. Die ganze Drogenpolitik in den USA ist sehr rassistisch. 1988 hat das FBI und das National Institut on Drug Abuse festgestellt, dass Afro-Amerikaner 12% bei den illegalen Drogenkonsumenten ausmachen, 80% aber sind Weisse. Von den Verhafteten waren im selben Jahr 38% Schwarze. In einer Studie über Verlaufs- und Entstehungsformen sozialer Probleme hat Peter Selling beschrieben, dass der Unterschied ständig gemacht wird. Die Ärzte klassifizieren zwei Narkotikakonsumenten: die "Unfall"-Abhängigen, die die Sucht nach einer Schmerzmittelbehandlung erlitten, eben solche, die nervlich instabil sind und eine psychopathische Persönlichkeit besitzen. Die Stigmatisierung zu "moralisch defekten" Angehörigen der Unterwelt findet sich in vielen Publikationen seit den 30iger Jahren.
Unbequem: Wäre es bei der Legalisierung nicht dasselbe Problem: die Mittel- und Oberschicht kann sich Gesundheitsbewusstsein leisten und die anderen müssen sich zudröhnen, um das Leben zu ertragen?
Winternitz: Das kann schon sein, wenn ich mir mein Leben betrachte, ich nehme seit 20 Jahren Opiate, ich behaupte, dass Heroin mein Leben gerettet hat. Heroin ist nicht die Ursache des Problems, sondern Teil eines destruktiven Lebensstils, der andere Gründe hat, davon ist Heroin nur ein ganz kleiner Teil. Ich finde, man weiss viel zu wenig über diese Sucht. Ich glaube nicht, dass Sucht eine Krankheit ist.
Unser ganzes Bild baut darauf auf, dass Sucht immer schlimmer wird und bis zum Tod führt. Dosissteigerung stimmt schon mal auch nicht: in Amerika hat ein Arzt einen Morphinisten zehn Jahre beobachtet, der niemals Dosissteigerung hatte. Das baut auf das Alkoholismusmodell auf, Drogensucht ist ein ziemlich neues Wort, das gibt es erst achtzig oder hundert Jahre. Das ist einfach eine Psychiatrisierung, früher waren das einfach Leute, die eine Schwäche für einen Rausch hatten. Deshalb denke ich, es gibt kaum soviele Mythen wie über Drogen. Wir denken zu monokausal, es wird immer nur die Droge beachtet, vielleicht ist sie gar nicht soo wichtig.
Unbequem: Heroin als Genussmittel, ist das nicht eine Verharmlosung?
Winternitz: Da muss man differenzieren. Die Mehrzahl der Gebraucher sind keine Missbraucher. Bei der Plattspitz-Untersuchung, wo 600 Junkies intensiv befragt wurden, kam heraus, das Klischee, das wir im Kopf haben, vom Junkie, der aus allem herausgefallen ist, ist eine Minderheit. Die meisten Leute erreichen eine Phase, etwa mit dreißig Jahren oder nach zehn Jahren Gebrauch, wo sie einfach herauswachsen, deshalb ist es das Wichtigste, erst mal das Überleben zu sichern. Und die Forschung muss auch ausgeweitet werden, aber nicht hundert Leute, wie hier in Frankfurt, sondern gleich ein paar hundert und eine Kontrollgruppe. Eine sehr interessante Kokain-Studie aus den Staaten, die teilweise über zehn Jahre lief, hat ganz schwere Gebraucher untersucht, die mussten mindestens 2g pro Woche über ein halbes Jahr lang genommen haben. Man hat festgestellt, es gab viele, die abgestürzt sind, aber genau so viele, die nicht abgestürzt sind. Die deutsche BKA-Kokain-Studie von Prof. W. Keup redet nur von Missbrauch. Man hat halt festgestellt, es sind die ganz normalen Dinge im Leben, Beruf, Freundeskreis, Familie, die die Leute davon abhalten, herauszufallen, und genau die holen sie auch wieder herein.
Unbequem: Also, bist Du für eine Freigabe, gleichzeitig soll den Leuten beigebracht werden, wie sie mit den Suchtmitteln umzugehen haben.
Winternitz: Da müßte man schon früher als bei Suchtmitteln anfangen, nämlich einfach bei Abhängigkeit. Man zieht das Pferd immer von der falschen Seite auf und überlegt sich, ja, wenn wir jetzt Crack legalisieren, dann kommt in ein paar Jahren was viel stärkeres, aber du wirst nicht sagen können, was in Zukunft alles erfunden wird. Abhängiges Verhalten ist kein Charakteristikum von Drogen, sondern von Menschen. Es wäre ganz anders für mich gewesen, wenn ich ganz offen mit meinen Eltern hätte darüber reden können früher. Ich könnte mir als Einstieg das Postversandmodell vorstellen und dann Erfahrungen sammeln. Ich würde auch keinem Dreizehnjährigen die Mittel zur Verfügung stellen wollen. Da gibt es schon eine Gefahr, weil ein Jugendlicher keine Erfahrungen hat. Als erster Schritt würde das gut in das Prohibitionsmodell passen, d.h. der Staat könnte weiter seine Kampagnen machen, es gäbe keine Werbung, keinen öffentlichen Verkauf, aber ich als Erwachsener habe wenigstens das Recht, dran zu kommen. Die Mehrzahl der Leute braucht keine Drogen. Ich weiß nicht, wie es sich entwickeln wird, aber es kann nur besser werden. Man geht immer davon aus, dass eine dunkle Macht wie Sirenen in die Drogen lockt, ich sage aber immer, ich bin nicht von Drogen abhängig, Drogen sind von mir abhängig. Vor allem, welche man nimmt, ein Freund von mir hat neulich Heroin probiert und konnte gar nicht verstehen, was ich daran finde. Was mich auch unheimlich ärgert ist, dass die Öffentlichkeit bestimmten Namen und Experten so viel Glauben schenkt. Zum Beispiel Lindlau, der behauptet einfach, seit in England die Heroin-Kliniken wären, sei der Schwarzmarkt mit legal verschriebenem Heroin angereichert worden. Jetzt braucht man nur einmal durchzurechnen, wieviel kommt pro Jahr nach England illegal rein und wieviel wird in der Klinik verschrieben. Wenn von den verschriebenen 8,5 kg nur 10% auf dem Markt verhökert werden, dann sind das 850g auf 5.000 kg Heroin auf dem Schwarzmarkt. Da von Anreicherung zu sprechen, ist einfach falsch.
Unbequem: Von offizieller Seite heißt es, die Repression hätte die Zahl der Drogentoten in Hessen gesenkt. Was ist Deine Theorie, warum die Zahl zurückging?
Winternitz: So wie in den letzten zwanzig Jahren die Zahl geschwankt hat, ist so eine Entwicklung nicht vorschnell zu beurteilen. Die vier- bis fünfhundert Substitutierten in Hessen machen schon etwas aus, aber wenn Repression der Grund wäre, würde das heißen, dass München unheimlich liberal wäre, weil dort die Zahl der Drogentoten in die Höhe geschossen ist. In vielen Städten gibt es gegenteilige Trends.
Unbequem: Wieso hast Du zu Drogen gegriffen?
Winternitz: Das war eine Form von Selbstmedikation, sonst hätte ich mich aus dem 10. Stock gestürzt. Die Phantasie in den weichen Drogen, wenn du einfach merkst, hier ist kein Platz zum träumen. Ich war einfach eine zu schwache Persönlichkeit, um meinen Träumen anders mehr Platz zu machen. Die typische innere Emigration. Es heißt immer Sucht ist Flucht, aber ich glaube, es gibt Situationen im Leben, wo es einfach dumm wäre, nicht zu fliehen. Ich habe eine Fotografenlehre gemacht und schon gearbeitet. Ich habe immer wieder versucht, mir etwas aufzubauen, habe dann alles wieder verloren und wieder aufgebaut. Ich habe schon versucht, eine normales Leben zu führen. Am Ende aber war das Drogenverbot für mich das eigentliche Problem und weniger die Drogen selbst. Ich hätte sehr gut mein Leben damit leben können, wenn nicht ständig Gesetze, Psychiater und verlogene Moral immer wüßte, was für andere richtig ist.
Unbequem: Wie hast Du denn die Polizei erlebt?
Winternitz: Ich hab' eigentlich bislang immer immer Glück gehabt. Aber es gibt natürlich Momente, wo du dir absolut hilflos vorkommst. Es war'n eigentlich harmlose Sachen, also wenn du am Drahtzaun hängst, oben die Hände und hast die Beine auseinander und dich nicht mehr halten kannst, das schneidet schon ganz schön ins Fleisch, und die wissen das ganz genau und machen dann extra lang, und du merkst ganz genau, die denken du bist der letzte Dreck. Und ich hab' dann gesagt, hier, ich kann mich nicht mehr halten, ich muss wenigstens mit den Füßen bisschen weiter an den Zaun ran, dann hieß es, wehe, du machst einen Schritt, dann... Oder in den Büschen, wo wir unsere Drucks gemacht haben - Du hast dann einfach Schiss, da gab es schon Momente, wo ich ohnmächtige Wut hatte. Oder '85, da haben sie bei mir eine Hausdurchsuchung gemacht, und weil ich nicht schnell genug an der Tür war, die Scheibe eingeschlagen, da gab es noch Ärger bis letztes Jahr, weil ich sie nicht zahlen wollte, jedenfalls auf dem Weg ins Präsidium sagte der eine: na klar, Freigabe, was willste mit Polamidon, das ist doch viel giftiger.
Unbequem: Gab es da einen Unterschied zwischen denjenigen, die kontrolliert haben und denjenigen, die die Sachbearbeitung gemacht haben?
Winternitz: Das habe ich eigentlich nicht so festgestellt. Es ist auch noch ein Unterschied, ob du mit Leuten zu tun hast, die du schon lange kennst und siehst oder so. Kürzlich lief ich am Bahnhof entlang, auf einmal quietschen Reifen, ein Typ, den ich halt kenn', fuhr rückwärts ran und rief: Ach, wo warst du denn, lange nicht gesehen. Das ist ganz normal und o.k. so. Es sind oft jüngere, die von außerhalb kommen, die unheimlich brutal sind, das habe ich oft festgestellt, dass ältere gar nicht so schlimm sind. Es sind die Jungen.
Unbequem: Gewaltförmige Übergriffe hast Du also nicht persönlich gesehen?
Winternitz: Nein. Dann gab es auch diese Ombudsstelle im Café Ruhdolf (=Krisenzentrum der Aids-Stelle in Frankfurt, d. Red.) mit dem schwarzen Buch, dort konnte jeder, der so Sachen erlebt hat eintragen, wo und wann was passiert ist und mit welchen Folgen. Das hat schon für Aufregung gesorgt in Sachen Polizei. Ich habe sowas schon mitgekriegt von Leuten, die ich kenne, mir selbst ist aber nie etwas passiert.
Unbequem: Wenn Du dann innerhalb der Polizei in dem Apparat gefangengenommen warst und auf Turkey kamst, hat man dir dann geholfen oder nicht?
Winternitz: Ich hatte halt auch das Glück gehabt, immer nur die 24 Stunden drin zu sein, länger nicht. Dann hab' ich auch die Zelle vollgekotzt und war total fertig. Das Schlimme ist halt, und es passiert relativ häufig, dass du mitten im Methadon-Programm bist, wenn eine alte Sache wieder aufkommt, dann kannst du Glück haben und kommst in einen Knast mit Methadon, oder du kannst Pech haben und kriegst von heute auf morgen nichts. Ich habe mit dem Schweizer Arzt Dr. Andre Sandberg gesprochen vom ersten Züricher OpiatKonsum-Lokal, er sagte, es sei gegen jede ärztliche Kunst gerade bei Methadon, wo jeder Entzug wesentlich schlimmer und länger ist als bei Heroin. Das finde ich ein Unding. Entweder wird es als Krankheit angesehen und die Krankenkassen zahlen und behandeln es wie eine Krankheit, dann will ich auch als Kranker anerkannt werden. Die Diabetiker kriegen ihre Medikamente ja auch. Aber es ist ja verboten. Da frage ich mich, wieso verbietet man nicht per Gesetz Neurosen? Wenn wir schon als Kranke definiert werden, dann kann man das doch nicht verbieten und jemanden für seine Krankheit bestrafen.
Unbequem: Was haben die Polizisten für einen Eindruck gemacht? Haben sie nicht reagiert, weil sie nicht wollten oder es einfach nicht besser wussten?
Winternitz: Für mich war einfach klar, dass die das auch gar nicht dürfen oder können. Theoretisch dürfte das ja nicht mal ein Arzt hier machen. Wenn du vor ein paar Jahren einen Entzug hattest, hast du nichts bekommen. Wir haben uns im Grunde genommen keine Gedanken gemacht und es einfach hingenommen.
Unbequem: Es gibt inzwischen auch ernstzunehmende ärztliche Gutachten, die den "kalten Entzug", also ohne jede Abstufung für falsch halten und den langsamen Ausstieg für viel gesünder und leichter halten.
Winternitz: Es gibt Leute, die wollen den kalten Entzug. Ich komme da nicht mit klar. Wenn ich freiwillig in einen Entzug gehe, dann muss man mir auch überlassen, wie ich da wieder rausgehe.
Unbequem: Selbstbestimmung wird mit egal welcher Definition, ob "krank" oder "süchtig", für euch gesellschaftlich nicht mehr zugestanden?
Winternitz: Ja. Das macht mich wahnsinnig. Ich habe neulich bei den Jusos mit dem Gerichtsmediziner Prof. Bratzke gesprochen, der steht einfach auf dem Standpunkt, ich kann gar nichts logisches mehr sagen, weil wenn ich auf Drogen bin, kann ich nur dummes Zeug reden. Da merkste einfach, der Typ hat panische Angst vor allem, was Kontrollverlust heißt. Das Leben sollte man natürlich unter Kontrolle haben, aber man muss auch loslassen können, sich gehen lassen. Die Euphorie und die Ekstase gehören zur menschlichen Erfahrung dazu, sonst ist ein Mensch wie eine ohne Sonne gereifte Frucht. Ein reiner Kopffüßler, der kein erotisches Verhältnis mehr zum Leben entwickeln kann. Solche Menschen machen mir Angst, und je mehr solche Menschen das Sagen haben, desto mehr Jugendliche werden Drogen nehmen. Solche gefühllosen Menschen schimpfen besonders gerne über die deviante Jugend, wenn sie zerstörte Telefonzellen sehen. Ich denke aber, dass es seine guten Gründe hat, wenn Jugendliche ihren brutal beschnittenen Lebensdrang in Trabantenstädten nicht ausleben können. Dann wäre es eher bedenklich um die Jugend bestellt, wenn sie sich noch nicht mal mehr aufraffen kann und so lethargisch geworden ist und keine Telefonzellen mehr demolieren würde. Für den Bratzke trifft meiner Ansicht nach unser Aufkleber zu, "Abstinenz ist Flucht vor'm Rausch".
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